Daedalus und Ikarus
Ovid`s Daedalus und Ikarus
DER VATER-SOHN-KONFLIKT
IM ZEITRAFFER
Veröffentlicht in: Anregung 5 (1994), S. 293-302
(leicht überarbeitet)
Der Mythos von Daedalus und Ikarus ist ein zeitloser Mythos, der bleibende Grundthemen abendländischen Selbstverständnisses anspricht. Der hier vorgelegte Ansatz will, ausgehend von einer Beobachtung von Friedrich Maier, ein weiteres Motiv dieses Mythos aufdecken, das bisher kaum wahrgenommen wurde, in der Fassung Ovids (Met VIII 183-235) jedoch eine zentrale Bedeutung besitzt. Gemeint ist der Vater-Sohn-Konflikt, den Ovid anhand der Beziehung von Daedalus und Ikarus wie in einem Zeitraffer verdichtet.
- Dies soll zunächst am Text aufgezeigt werden anhand der Charakterisierungen des Daedalus und des Ikarus. Überraschend wird sich dabei für beide Personen ein deutlicher, von Ovid wohl bewusst gestalteter Bruch ergeben, über dessen Funktion nachzudenken sein wird.
- Durch einen Vergleich mit Ovids erster Fassung des Mythos in der Ars amatoria (II 21-98) lässt sich das Motiv des Generationenkonfliktes als eine leitende Idee bei der Neugestaltung in den Metamorphosen nachweisen.
- Eine besondere Funktion und Bedeutung bekommt dabei das Vogelgleichnis (Met VIII 213-215), das den Wendepunkt im Verhältnis von Vater und Sohn markiert.
- Dass der Generationenkonflikt in der Fassung Ovids ein Zentralthema darstellt, lässt sich weiterhin zeigen anhand von Beobachtungen zum Kontext der Daedalus-Erzählung im 8. Buch der Metamorphosen.
- In einem letzten Schritt sollen Konsequenzen dieser Beobachtungen für die Behandlung des Mythos im Unterricht aufgezeigt werden. Gerade die innere, psychologische Dramatik dieser Erzählung bietet eine ideale Möglichkeit zur Motivierung der Schüler.
1. WER WAR SCHULD AN IKARUS‘ TOD? - EINE BERECHTIGTE FRAGE
Friedrich Maier hat als einer der ersten den Reichtum der Erzählung von Daedalus und Ikarus für den Lateinunterricht erschlossen. In seinem Aufsatz: „Ikarus - ein Symbol für Träume des Men-schen“, auf den wir uns im folgenden beziehen, stellt er von der Figur des Daedalus her die Frage nach dem Grund für den Absturz: „Die Erfindung gelang, der Flug mißlang. Warum?“ ... „War der Verlust des Sohnes durch ein obwaltendes Schicksal erzwungen, das die Schuld des Vaters 1 sühnte? Ikarus also ... ein Opfer an die Göttin Gerechtigkeit?“
Ähnlich wie Maier formuliert auch Röttgen mit Blick auf moderne Rezeptionen: „Die Frag-würdigkeit eines unaufhörlichen technischen Fortschrittes wird mit dem Sinnbild des Absturzes verbunden, Ikarus als Opfer des Vaters.“ (S. 10).
Dass die Hauptverantwortung für den Tod des Ikarus bei Daedalus liegt - als Vater und als Erfin-der - ist wohl unbestritten; offen bleibt nur, ob der Absturz rein schuldhaft zu verstehen ist oder eher tragisch, im Sinne einer „schuldlosen Schuld“. 2
Schwieriger dagegen ist die Frage nach einer möglichen Mitschuld des Ikarus: Inwieweit muss Daedalus und inwieweit kann Ikarus selbst für seinen Tod verantwortlich gemacht werden? Die Antwort hängt in erster Linie vom Alter des Ikarus ab. Ein kleines Kind kann für seinen Leicht-sinn nicht verantwortlich gemacht werden, ein Jugendlicher schon. So fragt denn Friedrich Maier: „Ist der jugendliche Ikarus überhaupt so reif, dass er für seinen freien Umgang mit der technischen Errungenschaft [des Vaters] verantwortlich zu machen ist?“ (S. 196) - Wie alt also müssen wir uns Ikarus vorstellen?
2. WIE ALT WAR IKARUS ? - EIN PSYCHOLOGISCHER BRUCH
(Beim Bau der Flügel:) Der Knabe Ikarus stand dabei und ohne zu ahnen, dass er da etwas für ihn Gefährliches berührte, fing er bald mit strahlendem Gesicht von einem Luftzug aufgewirbelte Flaumfedern, bald knetete er das gelbe Wachs mit dem Dau-men weich und störte mit seinem Spiel das Wunderwerk des Vaters. (Puer Icarus una stabat et ignarus sua se tractare pericla / ore renidenti modo, quas vaga moverat aura, / captabat plumas, flavam modo pollice ceram / mollibat lusuque suo mirabile patris / inpediebat opus. - 195-200).
(Nach längerer Flugstrecke:) Da gewann der Knabe plötzlich Spaß am kühnen Flug, verließ seinen Führer und stieg zu hoch in seinem Drang nach dem Himmel. (cum puer audaci coepit gaudere volatu / deseruitque ducem caelique cupidine tactus / altius egit iter. - 223-225)
Friedrich Maier ist beim Vergleich dieser beiden Zentralstellen eine deutliche Diskrepanz aufgefallen, die er so formuliert: „Nun paßt freilich der entschlossene Ungehorsam des Sohnes ab v. 223 ff. nicht so recht zu dem kindlichen Verhalten, das er am Anfang v. 195 ff zeigt: Das Spie-len mit Federn und Wachs.“ Erscheint er zu Beginn der Erzählung noch als verspieltes „unmündiges Kind von etwa 10 bis 12 Jahren“, so am Ende des Fluges „als eigenwillig handeln-der junger Mann“, „etwa 14 bis 16 Jahre alt, also gerade in dem Alter, in welchem ein junger Mann pubertiert.“ Maier spricht aufgrund dieser Beobachtungen von einem „psychologischen Bruch in der Wesensdarstellung des Ikarus“ (Maier, S. 197-199, bes. Anmkg. 16).
Nimmt man diesen Bruch wahr - und er scheint mir überdeutlich zu sein -, so ergeben sich zwei wichtige Fragen:
1) Wann genau hat sich der Umbruch in Ikarus vollzogen?
2) Welche Funktion erfüllt er für die Erzählung als ganze?
Friedrich Maier selbst hat zwar den psychologischen Bruch im Charakter und Verhalten des Ikarus klar erkannt, ist jedoch an dieser Stelle (S. 197 ff.) so sehr auf das Hybris-Motiv konzentriert, dass er seine Beobachtung nicht weiter für die Interpretation der Erzählung nutzt. So schreibt er: „Die Klärung der Frage, wie alt Ikarus nach der Phantasie des Dichters gewesen sein mag, ist für das Verständnis des Ovidtextes nicht unbedingt wichtig.“ (ebda.). Er nimmt deshalb an, „dass Ovid diesen psychologischen Bruch in der Wesensdarstellung des Ikarus gar nicht spürte, weil es ihm mehr auf die Ausgestaltung einer schönen Geschichte ankam und nicht auf eine von der Psyche der Agierenden her zu verstehende Problematisierung einer Erfindung.“ (ebda.) 3
Stimmt man diesem Gedankengang zu, so würde das bedeuten,
1. dass Ovid diese Problemkonstellation (nämlich das pubertierende Aufbegehren des Ikarus) rein zufällig und ohne Absicht angelegt hätte,
2. dass ihm dabei der psychologische Bruch im Verhalten des Ikarus nicht aufgefallen wäre, oder, schlimmer noch,
3 dass er einen solch deutlichen Bruch zwar bemerkt, jedoch nicht abgeändert hätte.
Alle drei Konsequenzen scheinen undenkbar, berücksichtigt man das sonst überall feststellbare psychologische Feingespür und Interesse Ovids und berücksichtigt man, dass er vom neote-rischen Dichtideal 4 geprägt war und die Technik der Ausfeilung kleinerer Einheiten meisterhaft beherrschte.
Vielmehr muss man annehmen, dass Ovid diesen Bruch absichtlich in den Verlauf seiner Erzählung eingebaut hat! Wann, wie und warum aber beginnt sich Ikarus zu verändern? Und wo genau innerhalb der Erzählung ist der Bruch anzusetzen? Dies soll im folgenden anhand des Textverlaufes nachverfolgt werden.
3) DIE CHARAKTERISIERUNG DES DAEDALUS UND DES IKARUS
Nicht nur für Ikarus, sondern auch für seinen Vater lässt sich die Frage stellen: Wie alt eigentlich ist Daedalus in Ovids Geschichte?
Nachdem er letzte Hand an`s Werk gelegt hatte, da schlüpfte der Meister selbst in beide Flügel und schwebte im Luftstrom. (Postquam manus ultima coeptis / inposita est, geminas opifex libravit in alas / ipse suum corpus motaque pependit in aura. - VIII 200 ff.)
Während er Ikarus die Flügel anlegte und ihn ermahnte, da wurden die Wangen des Greises feucht und es zitterten die Hände des Vaters. (Inter opus monitusque genae maduere seniles / et patriae tremuere manus. - VIII 210 f.)
Eine entscheidende Beobachtung, die bisher den Interpreten verborgen blieb, liegt darin, dass Ovid nicht nur in seiner Darstellung des Ikarus einen psychologischen Bruch einfügt, sondern auch - nur an anderer Stelle - bei der des Daedalus. Ganz plötzlich wird er, bisher ein Mann im Vollbesitz seiner Schaffenskraft, zum Greis. Und ebenso plötzlich wandelt sich Ikarus, zunächst ein kleiner Junge, zum Jugendlichen. Diese Gegenläufigkeit muss gesehen werden, um zu erfas-sen, wie Ovid das Motiv des Generationenwandels bzw. des Generationenkonfliktes in seiner Fassung des Mythos gestaltet. 5
Gehen wir die Erzählung einmal durch und verfolgen wir die wechselseitige Charakterisierung beider Figuren; wichtig ist es dabei zu sehen,
1) dass sowohl Daedalus als auch Ikarus nur indirekt, durch ihre Handlungs- und Verhaltens-weise charakterisiert werden, und dass
2) in den wechselnden Szenen jeweils immer nur einer der beiden Akteure „auf der Leinwand“ zu sehen ist, während die Verhaltensweisen und Empfindungen des anderen völlig ausge-blendet sind.
Zunächst steht einzig und allein Daedalus im Blickfeld des Geschehens, der schon bei der Konstruktion des Labyrinthes als ingenio fabrae celerrimus artis (VIII 159), berühmter Erfinder und Handwerker eingeführt wurde. Ovid charakterisiert ihn einzig und allein durch sein Handeln: schnell, sicher und zielstrebig tut er das Nötige, findet die technische Lösung (ignotas animum dimittit in artes - VIII 188) und setzt sie dann routiniert und geschickt um: ponit ... pennas, ... ceris alligat, ... curvamine flectit (Er ordnet die Federn, verbindet sie mit Wachs und versieht das Ganze mit einer Krümmung -VIII 189-194).
Jetzt erst fällt der Blick auf Ikarus, den Ovid von Anfang an als puer, Knabe, kennzeichnet
(VIII 195). Ohne zu wissen, worum es geht und was er da tut (ignarus sua se tractare pericla - VIII 196) - also ganz im Gegensatz zu Daedalus! - , spielt er in der Werkstatt des Vaters und stört diesen bei der Arbeit (ore renidenti .. captabat plumas ... lusuque suo .. patris inpediebat opus - VIII 197 f . und 199 f.).
Genau „im Augenblick der Vollendung des Werkes“ 6 , auf dem Höhepunkt seiner Macht, bezeichnet Ovid Daedalus als opifex (VIII 201): Handwerker, Macher, ja: Schöpfer. 7
Bis hierhin zeigt sich Daedalus als versierter Handwerker in der Fülle seiner Erfahrung und Kraft, ein bestimmender Vater, Ikarus dagegen als verspielter kleiner Junge, ein Träumer.
In den Versen 203-209, der Instruierung des Ikarus, listet Ovid - überbetont! - eine Fülle von Befehlen und Ermahnungen auf: Instruit natum, moneo, ne .., nec te spectare .. iubeo, inter utrumque vola! und zum Abschluss: me duce carpe viam! (~ Halte dich immer an mich als Führer!). Ikarus kommt gar nicht zu Wort, erscheint immer noch unmündig. Der Vater dagegen, entschlossen und zielstrebig, hat alles genau berechnet und unter Kontrolle.
Ein kurzer Übergang: noch während er ihn ermahnt, legt Daedalus seinem Sohn die Flügel an. Und dann? Inter opus monitusque genae maduere seniles, et patriae tremuere manus (Während er Ikarus die Flügel anlegte und ihn ermahnte, da wurden die Wangen des Greises feucht und es zitterten die Hände des Vaters - VIII 210 f.).
Nun wird es spannend: - Dedit oscula nato (Er küsste seinen Sohn - VIII 211) ... pennisque levatus ante volat comitique timet (und von den Flügeln in die Luft gehoben fliegt er voran und bangt um seinen Begleiter - VIII 213) velut ales, ab alto / quae teneram prolem produxit in aera nido (wie ein Vogel, der hoch vom Nest herab seine noch zaghafte Brut in die Luft lockt - VIII 213 f.) hortaturque sequi, damnosasque erudit artes (und er ermahnt ihn zu folgen, und lehrt ihn die verhängnisvolle Kunst - VIII 215) et movet ipse suas et nati respicit alas (und bewegt selbst seine Flügel und achtet auf die seines Sohnes - VIII 216).
Plötzlich ist die ganze Selbstsicherheit des Daedalus gewichen; wie um Jahre gealtert, ein Greis, zittert er ängstlich. Ein deutlicher Bruch in der Charakterisierung des Daedalus! - Von Ikarus dagegen hören wir nichts. Er ist immer noch natus, das Kind, das erzogen und ermahnt wird.
Mitten in diese gespannte Atmosphäre ängstlicher Furcht fügt Ovid eine Zwischenszene ein, zunächst mit Blick vom Boden (VIII 217-220a) und dann vom Himmel aus gesehen (VIII 220b-222). Da fliegen sie nun über die Inseln hinweg und scheinbar geht alles gut, ... cum puer audaci coepit gaudere volatu (... als plötzlich der Knabe Spaß am kühnen Flug bekam - VIII 223) ... deseruitque ducem (... seinen Führer verließ - VIII 224) ... caelique cupidine tactus / altius egit iter (... und zu hoch stieg in seinem Drang nach dem Himmel - VIII 225).
Nun ein ebenso plötzlicher Bruch in der Charakerisierung des Ikarus, der (in Enallagé) als „kühner Junge“ erscheint, zwar noch puer, doch schon dem „Nest“ entflüchtend (vgl. VIII 213 ff.). Psychologisch ist er damit in die Pubertätszeit einzuordnen!
Jetzt erst - pater infelix - nec iam pater (unglücklicher Vater - und schon nicht mehr Vater -
VIII 231) wird Daedalus auf seine Vaterrolle angesprochen, auf die Verantwortung, die er bisher nicht genügend gesehen hatte.
Fassen wir die Beobachtungen zusammen:
1. Es ergibt sich für Ikarus ein deutlicher Bruch in seinem Verhalten, der - und dies ist wichtig! - im Verlauf des Fluges anzusetzen ist und gleichsam einen Entwicklungs- und Reifesprung darstellt.
2. Für Daedalus ergibt sich ein ebenso deutlicher Bruch in seiner Gefühlslage und in seiner Selbstsicherheit, der der Wandlung des Ikarus vorausliegt und dieser sozusagen den Weg freimacht. Erst durch das Schwinden der väterlichen Autorität gewinnt Ikarus den Mut, gegen das Verbot des Vaters eigenmächtig zu handeln.
3. Die Charakterisierungen beider Figuren verlaufen also genau gegensätzlich und sind insofern umgekehrt aufeinander bezogen.
Die Schwierigkeiten in der bisherigen Interpretation der Erzählung bestanden darin, dass die Frage nach Alter und Verantwortlichkeit des Ikarus nur widersprüchlich zu beantworten war.
So leidet Ikarus nach M.v.Albrecht „unschuldig; seine Fehler werden durch seine Jugend ent-schuldigt, und die Strafe für sie steht in keinem Verhältnis zu seinem jugendlichen Leichtsinn.“ (Consilia, S. 85)
Friedrich Maier dagegen meint, dass Ovid in den Metamorphosen „das Verhalten des Ikarus so in die Problemmitte rückt, dass er dem Leser als eigenwillig handelnder junger Mann erscheint.“
(S. 197) Für ihn handelt Ikarus deshalb „nicht als naives, unmündiges, außerhalb jeglicher Verantwortung stehendes Kind, sondern als junger Mensch, der mit eigenem Willen sich für seine Lust gegen das Gebot des Vaters entscheidet“ (S. 197) und somit auch schuldig wird.
Dagegen wiederum betont Brigitte Hebel: „Die Jugend des Knaben .. läßt die Künste des Vaters notwendigerweise zu verderblichen werden“. Für sie bewirken sowohl das frühere Verbrechen des Daedalus als auch „die natürliche kindliche Unbekümmertheit .. das Scheitern des Unterneh-mens“. (Vidit et obstipuit, S. 92).
Diese Widersprüche lassen sich erst durch die Beachtung des psychologischen Bruches innerhalb der Erzählung auflösen. Sowohl Ikarus als auch Daedalus werden in unterschiedlichen Alters-stufen und Lebensphasen dargestellt, jedoch in einer gegenläufigen Entwicklung; ein unmerklich entstehender und tragisch endender Vater-Sohn-Konflikt.
Insofern Ikarus zum Zeitpunkt des Fluges nicht mehr als Kleinkind, sondern bereits als Jugendlicher auftritt und handelt, lässt sich auch die Frage nach seiner Mitschuld an seinem Tod eindeutig beantworten.
Welche Bedeutung haben nun diese Beobachtungen für das Gesamtverständnis des Mythos? Welche Funktion erfüllt der psychologische Bruch für die Erzählung als ganze?
4. DER VATER-SOHN-KONFLIKT - EIN GESTALTUNGSMOTIV OVIDS
Die Befreiung von der elterlichen Autorität, wie sie im Verhältnis des übermächtig-/ohnmäch-tigen Vaters zu seinem kindlich-abhängigen / pubertierend-aufbegehrenden Sohn angelegt ist, ist ein Aspekt des Themas „Freiheit“, das als Grundmotiv diesen Mythos durchzieht.
Herwarth Röttgen ist unseres Wissens der einzige, der diesen Aspekt näher beschrieben hat, aller-dings aus der Sicht des Kunsthistorikers und ausgehend von der Rezeptionsgeschichte. 8 Auf-grund der Wichtigkeit seiner Beobachtungen für unser Thema sei hier etwas umfangreicher aus seinem Aufsatz zitiert.
Grundlegend schreibt er (Heft 2, S. 5): „Vielleicht gibt es wenige mythische Gestalten, die einen inzwischen so breit gefächerten Lebensbezug besitzen, wie das Vater-Sohn-Paar Daedalus und Ikarus. ... Die Spanne ihrer beider Lebensbezüge reicht, was nun das spezielle Vermögen des Fluges anbelangt, vom Fliegen als Technik und Naturwissenschaft über die Moral des klugen Haltens der Mitte als ethisch-philosophische Anweisung bis hin zur auffliegenden Imagination als Wesenszug der Seele, die sich in Poesie und Kunst äußert, und schließlich bis zur Vorstellung von alternativem Leben und Träumen als Teil einer modernen Sozialpsychologie. Das Vater-Sohn-Verhältnis greift zudem tief in die Psychologie der Generationen hinein.“
In einer symbolischen Ausdeutung sind nun „nicht das Fliegen, sondern die Vorstellungen, Hoffnungen, Wünsche, die sich im Fliegen ausdrücken“, entscheidend (Heft 2, S. 6). „Auf den Beginn des Mythos, die Idee des menschlichen Fluges in die Freiheit von fremdem Beherrscht-sein, folgt der nun hineingelegte Sinn des Fluges, sich durch Bewahrung des klugen Maßes vor Extremen zu sichern, wiederum gefolgt durch den ikarischen Aufstieg zur Imagination, dann skeptisch in Frage gestellt durch Zweifel, Ironie und Absturz.“ (Heft 2, S. 7).
Anhand von Rezeptionsdokumenten zeigt er, wie für Ikarus der Flug „nicht zum Gebrauch der Vernunft“, „aus einer Notwendigkeit heraus und zu einem Zweck“, „sondern zur stolzen Selbst-erfahrung des heranwachsenden Knaben“ dient (Heft 2, S. 11).
„Die eigentlich vorwärtsweisende Deutung aber ist der Aufstieg des Ikarus als Symbol einer Neues erkundenden Jugend gegen eine die Mitte haltende Weisheit des Alters, ein unaufhebbarer und höchst aktueller Zwiespalt, der sich in der Renaissance und dann vor allem im Barock erst-malig zeigt und in dem sich das Abenteuer des neuen Fortschrittglaubens und der Aufbruch zur Neuzeit anzeigt. Über den Mut des Vaters wächst der Über-Mut des Sohnes hinaus. Im zwanzigsten Jahrhundert wird dann dieser Mythos eben auch als Befreiung des Sohnes vom Vater gedeutet werden.“ (Heft 2, S. 22)9
Überaus deutlich ist hier der Motivstrang des Vater-Sohn-Konfiktes offengelegt und anhand der Rezeptionsgeschichte nachgewiesen. Während Röttgen darin allerdings eher eine nachträgliche „Verwandlung“ (Heft 3, S.9) des „lebendigen Mythos“ (Heft 2, S.5) sieht - als weitergehende Ausdeutung von Persönlichkeits-Chiffren aus deren „imaginativer Potenz“ heraus (ebda.) - , sehen wir in diesem Motiv ein ursprüngliches Thema des Mythos, das bereits in der Fassung Ovids angelegt ist.
Offen blieb bisher noch die Frage, welche Funktion der „psychologische Bruch“ für die Gesamt-erzählung hat. Maier schreibt im Zusammenhang seiner Erläuterung des Hybris-Motivs (Auxilia, S. 18 f.): „im Werk seines Vaters sieht er schon, als jener es herstellt, nur die Möglichkeit zu spielen. .... Für Ikarus bedeutet das Fliegen nur Spiel, ausgelassene Freude, er berauscht sich an der Kühnheit des Fluges.“
Diese Bemerkung ist in Hinsicht auf das Hybris-Motiv als Ursache für die Verfehlung des Ikarus sicherlich richtig; vom Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes her bedeutet das Fliegen jedoch mehr, es erhält einen existentiell ernsthafteren Charakter, nämlich die Erprobung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten. Es ist ein Weg der Selbstfindung, der unter anderen, weniger extremen Um-ständen vielleicht geglückt wäre oder zumindest nicht so tragisch geendet hätte.
Man denke etwa an den Ausbruchsversuch des Matthias Russ, der mit einem Kleinflugzeug unbemerkt über alle Grenzen hinweg bis nach Moskau flog, wo er auf dem Roten Platz landete. Dass im Gegensatz dazu der Ausbruchsversuch des Ikarus dramatisch scheitert, wird plausibel erst durch den schon vorher unmerklich angelegten, im Endeffekt jedoch überraschend und plötzlich ausbrechenden Vater-Sohn-Konflikt.
Die Gestaltung dieses Konfliktes entspringt wohl der Notwendigkeit - will man die Story nicht nur äußerlich nacherzählen - , ein psychologisch plausibles Motiv für den Ungehorsam des Ikarus zu finden. Seine ursprüngliche Funktion scheint darin zu liegen, gerade trotz der eindringlichen Instruktionen das Abweichen des Ikarus von der Linie des Vaters verständlich zu machen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Ovid das Thema der Befreiung von „fremdem Be-herrschtsein“ (Röttgen, Heft 2, S. 7), das ja innerlich genauso für Ikarus zutrifft 10 , wie es äußerlich zur Figur des Daedalus gehört, parallel auf zwei Ebenen darstellt: auf der äußeren Erzähl- und Handlungsebene und auf der Ebene der inneren, psychologischen Entwicklung.
Insofern muss hier Maier widersprochen werden, wenn er sagt, dass es Ovid „nicht auf eine von der Psyche der Agierenden her zu verstehende Problematisierung einer Erfindung“ ging (S. 198, Anmkg. 16). Nicht die Erfindung selbst wird problematisiert, sondern vielmehr die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Denn nicht die Erfindung scheitert im eigentlichen Sinne - sie funk-tioniert, wie erwartet, perfekt - sondern es scheitert die Psyche eines der Nutznießer. Und, so müssen wir weiter sagen, sie scheitert nicht allein aus Übermut, sondern auch aus dem Drang nach Befreiung von autoritären Bindungen und nach Selbstbestätigung.
EXKURS: DIE MAGISCHE MACHT DER MASCHINE
Diesen Drang, so kann man vermuten, hat wohl allererst die „Maschine“ - als Vehikel - erweckt und zum Ausbruch kommen lassen. Die magisch bannende Bedeutung und Funktion der Maschi-ne und des Machens, wie es für Daedalus, den opifex (opus facere) typisch ist, belegt Jean Gebser in: „Ursprung und Gegenwart“. Er weist hin auf die Wurzelverwandschaft der Wörter machen, Mechanik, Maschine, Macht und Magie, die der indoeuropäischen Wurzel „mag(h)-“ entstammen (Band I, S. 87).
Die Fixierung auf die Maschine - als magisches Mittel der Befreiung - ist bei Ikarus jedoch anders als bei Daedalus. Während dieser sich von der reinen Faszination der Maschine frei machen kann - gerade weil er ihre Mechanik und Technik durchschaut und beherrscht, sie ratio-nal kontrolliert und mit kalkulierbarem Risiko nutzt -, verfällt Ikarus rettungslos der Magie, dem Zauber und dem Machtrausch, der von der Maschine ausgeht.
Einen neuen Aspekt erhalten aus dieser Sicht auch die unbeirrbare Willenskraft des Daedalus und die von ihr gesteuerte Veränderung der Natur (naturam novat - VIII 189). So schreibt Gebser über das magische Welterleben: „In einem gewissen Sinne kann man sagen, daß in dieser Struktur das Bewußtsein noch nicht im Menschen ist, sondern noch in der Welt ruht. Die allmähliche Umlagerung dieses Bewußtseins, das auf ihn einströmt, und das er assimilieren muß, oder von ihm aus gesehen: diese erwachende Welt, der er gegenüberstehend allmählich bewußt wird ...: beides muß er meistern. Und er antwortet auf die ihm entgegenströmenden Kräfte mit den ihnen entsprechenden eigenen: er stellt sich gegen die Natur, er versucht sie zu bannen, zu lenken, er versucht, unabhängig von ihr zu werden; er beginnt zu wollen.“ (Band I, S. 88)
Der Meister (mag<h>ister) ist zugleich Magier und Macher, Zauberer und Mächtiger. Als Vater entspricht seiner Macht die träumerische Ohnmacht, in der Ikarus gefangenbleibt und aus der er erst während des Fluges im Rauschgefühl der eigenen Kraft und Leistung erwacht.
Gebser schreibt weiterhin, als ob es auf Ikarus bezogen wäre: „Dieser seltsame, dem Menschen wohl doch zutiefst eingeborene Drang zum Freisein, der, wenn wir an die archaische Struktur zurückdenken, sich in der magischen gleichsam als ein Fall, ja als ein Abfall aus der einst gegebenen gänzlichen Ganzheit darstellt - dieser Freiheitsdrang und das aus ihm resultierende ständige Gegen-etwas-sein-Müssen (denn nur dieses „Gegen“ schafft Distanzierung und damit Bewußtwerdungsmöglichkeiten) ist vielleicht ... eine auf die Macht der Erde antwortende Reak-tion des Menschen, der auf diese Erde verschlagen wurde.“ (Bd. I, S. 96).
5. VON DER KUNST DES UNGESAGTEN - LESERLENKUNG BEI OVID
Welcher Leser hätte nicht schon während der Instruierung des Ikarus bei den vielen langatmigen Ermahnungen und Belehrungen des Vaters das stumme Widerstreben, die Abneigung, den Widerwillen des Ikarus herausgehört? Seine Reaktion darauf, überhaupt seine innere Verfassung, erwähnt Ovid jedoch mit keinem Wort: Hört Ikarus überhaupt zu oder überhört er das Gerede des Daedalus? Begreift er die Erklärungen des Vaters? Was für ein Gesicht macht er? Hält er den Kopf gesenkt oder trotzig erhoben oder schaut er zur Seite weg? Wir wissen es nicht; - und wir sollen es auch nicht wissen! Ein großer Teil der psychologischen Raffinesse und der dichteri-schen Qualität der Erzählung liegt in dem Mut Ovids, dem Leser selbst wesentliche Teile der Ausgestaltung zu überlassen.
Bescheiden ist die innere Ausmalung der Figuren, ihrer Gefühle, Empfindungen und Motive, die einzig bei Daedalus punktartig erwähnt werden 11 , bei Ikarus dagegen völlig fehlen. 12 Beschei-den ist auch - mit Ausnahme der Herstellung der Flügel - die Veranschaulichung der Vorgänge, Umstände und Orte, über die man oft mehr hätte erfahren mögen. 13
Und doch: ein Jeder spürt bereits die innere Ablehnung des Ikarus, bevor sie äußerlich sichtbar wird. Und nur deshalb erscheint auch sein späteres Aufbegehren während des Fluges plausibel. Ansonsten wäre der Bruch so hart, dass er schlechtweg unverständlich wäre und den Wider-spruch des Lesers herausfordern müsste.
Ovid will offensichtlich keine Ausschmückung, keine spannende, bildhafte Erzählung. Er will keinen Fluchtroman schreiben, sondern bestimmte Motive mythologisch verdichten. Darin be-steht wesentlich seine Kunst.
Bereits M.v.Albrecht ist die „Straffheit ovidischen Erzählens“ 14 aufgefallen. Ovid rafft den Handlungsverlauf, immer nur kurz und knapp das Nötigste erzählend und oft schon eins ins andere übergehen lassend. Deshalb bemerkt der Leser wesentliche Anteile des Erzählten nur sublim. So durchzieht die gesamte Erzählung eine innere Eile, ja Gehetztheit des Daedalus, z. B.:
- wenn er sich eben noch über Minos ereifert und im nächsten Moment schon über die Kon-struktion der Flügel nachdenkt (dixit et ignotas animum dimittit in artes - VIII 188),
- die er in rascher Folge vollendet, anzieht und bereits ausprobiert (Postquam manus ultima .. / inposita est, ... opifex libravit in alas / ... motaque pependit in aura. - VIII 200-202),
- wenn er Ikarus zur gleichen Zeit die Flügel erklärt und anlegt (Pariter praecepta volandi tradit et ignotas umeris accomodat alas. - VIII 208 f.)
- wenn er seinen Sohn zum Abschied küsst und sich anschließend sofort in die Luft schwingt (Dedit oscula nato ... pennisque levatus ante volat - VIII 211 f.), und
- wenn er bereits losfliegt, bevor noch die nötigen Ermahnungen und Übungen abgeschlossen sind (hortaturque sequi damnosasque erudit artes - VIII 215).
Erst die Suche nach dem entschwundenen Ikarus erfolgt, wie zuvor die Konstruktion der Flügel, wieder sorgfältig und über längere Zeit hinweg (VIII 231-233).
Aufgrund der Knappheit der Schilderung entsteht Spannung weniger äußerlich - Ovid baut sie sogar durch gezielte Vorverweise ab (vgl. Maier, Auxilia, S. 23-26) -, sondern sie entsteht innerlich aus dem Offenlassen der Gefühle und Empfindungen, vor allem des Ikarus. 15 - Wie denn hat sich Ikarus vor und während des Fluges gefühlt, was ist in ihm vor sich gegangen? Damit lässt Ovid den Leser wie mit einem psychologischen Rätsel allein. Allenfalls das Stichwort cupidine tactus (224), von triebhaftem Verlangen erfasst, lässt erahnen, was geschehen ist. Ikarus muss sich gleichsam entfesselt gefühlt haben, frei; - das Wort vincla (Bindungen, Fesseln) in Vers 226 lässt dies anklingen.
All dies wird nicht auf den ersten Blick bewusst. Ovid legt oft nur Spuren, spinnt Leitfäden, mit denen er die Phantasie und Imagination seiner Leser unmerklich lenkt. Dabei verdichtet er die Erzählung immer wieder auf einzelne Brennpunkte hin, die er, wie durch eine Lupe vergrößert, vor Augen führt.
Wie Ovid den Leser in Bezug auf den Entwicklungssprung in Ikarus (vom Kind zum Jugend-lichen) lenkt, wollen wir im nächsten Abschnitt zeigen. Dort geht es vor allem um die Verdich-tung zeitlicher Aspekte, wobei Ovid überraschend modern wirkende, fast surreale Techniken der Bildführung einsetzt.
6. ERWACHSENWERDEN - PSYCHOLOGIE IM ZEITRAFFER
Die Technik des Zeitraffers oder Zeitsprunges verwendet Ovid nicht nur zur Beschleunigung der Handlungsabfolge (s. o.), sondern auch zur Darstellung verschiedener Lebens- und Altersstufen innerhalb ein und derselben Erzählung: der Vater entwickelt sich vom Mann zum Greis, der Sohn vom Kind zum jungen Mann.
Dem inneren, psychologischen Bruch entspricht auf der äußeren Erzähl- und Handlungsebene (real gesehen) ein zeitlicher Bruch bzw. ein Entwicklungssprung. Diesen Zeitsprung musste Ovid innerhalb des Handlungsverlaufes darstellen. Wir wollen deshalb versuchen, die zeitliche Komposition und damit die dichterische Idee der ovidischen Erzählung aufzudecken.
Über den Einschub: hos aliquis ... vidit et obstipuit, quique aethera carpere possent, credidit esse deos (Diese erblickte jemand ... und erstarrte vor Staunen, und da sie fliegen konnten, hielt er sie für Götter. - VIII 217 ff.) ist schon viel geschrieben geworden. 16
Maier (Auxilia, S. 25) weist darauf hin, dass dieser Einschub als einziger nicht aus der Sichtweise des Daedalus oder des Ikarus geschildert ist und spricht deshalb von einem „Bildschnitt“. Dieser erfolgt an der intensivsten und spannendsten Stelle der Erzählung, nämlich direkt nach dem Abflug.
Natürlich soll hier, wie Brigitte Hebel es deutet, „das Sensationelle des Geschehens in den Augen der Zuschauer gespiegelt werden“ (S. 92). Ovid erreicht tatsächlich geschickt eine Mithinein-nahme des Lesers in das Staunen und Erschrecken der Bauern und Hirten.
Jedoch ist es wichtig zu sehen, dass die gespannten Fragen des Lesers, ob und wie denn das Fliegen funktioniert und wie die beiden sich in der Luft fühlen, durch diesen Bildschnitt elegant verdrängt werden. Bis zum Schluss verweigert Ovid die Antwort auf die Frage nach dem Erfolg, dem Funktionieren der Erfindung und dem Gelingen der Flucht, und hält so - wohl absichtlich - die Spannung offen.
Natürlich steckt auch, wie Friedrich Maier anmerkt, in dem credidit .. esse deos ein Hinweis an den Leser auf die Hybris, den Übermut und den sträflichen Leichtsinn eines solchen Unterneh-mens.
Etwas anderes aber ist vielleicht für die Lenkung des Lesers noch entscheidender. Unbemerkt nämlich vollführt Ovid durch das wiedereinholende et iam .. laeva / parte Samos .../ , dextra Lebinthos erat (und schon lag auf der linken Seite die Insel Samos, auf der rechten Lebinthos - VIII 220 ff.) einen sowohl räumlichen wie zeitlichen Sprung. Und während der Leser noch in der Position des Beobachters am Boden verharrt und von den Gefahren des Fluges abgelenkt wird, führt Ovid ihn mit diesem Sprung wieder in das Geschehen zurück.
Zunächst aber folgt - nun aus der Perspektive der beiden Fliegenden - eine lang gehaltene, epische Schilderung der bisher bewältigten Flugstrecke. Scheinbar, so denkt der Leser, geht alles gut, die Spannung flaut ab und das sichere Gefühl des „bald ist es geschafft“ stellt sich ein.17
Und erst dann, als die vorherige Angst des Vaters - und damit auch des Lesers - sich gelegt haben müsste, lässt Ovid mit einem „cum inversum“ die Spannung wieder hochschnellen. Aufstieg und Fall des Ikarus folgen jetzt so schnell, dass man kaum begreift, was geschieht. Erst im Nach-hinein merkt der Leser, dass sich eben nicht nur ein zeitlicher und räumlicher, sondern vor allem ein psychologischer Sprung vollzogen hat: aus dem puer ignarus ist (in Enallagé) ein puer audax geworden, aus dem Kind ein Jugendlicher.
Die katastrophé, die unerwartete Wende, wird - aufgrund der Vorverweise - gleichsam folge-richtig abgespult. Nur den Moment des Stürzens, der bangen Angst, des plötzlichen Erwachens, des klammen Zuspät, den kostet Ovid noch aus, indem er, wie es M.v.Albrecht für die Fassung in der Ars sehr schön beschrieben hat18, eine kurze „Zeitlupenaufnahme“ der dramatischen Situation kurz vor dem Sturz einschiebt: Tabuerant cerae: nudos quatit ille lacertos remigioque carens non ullas percipit auras (Geschmolzen war das Wachs: nackt schlägt jener mit den Armen, doch ohne die Flügel erfasst er die Luft nicht mehr - VIII 227 f).
7. PRÄLUDIUM - DIE FASSUNG DES MYTHOS IN DER ARS AMATORIA
Im Rahmen des Themas der „Liebeskunst“ - wie bekommt und behält man ein Mädchen? - leitet Ovid zu Beginn des zweiten Buches, an seine jungen männlichen Leser gerichtetet, die Daedalus-Erzählung folgendermaßen ein: Arte mea capta est, arte tenenda mea est. Nec minor est virtus, quam quaerere, parta tueri (Durch meine Kunst hast Du sie bekommen, nun halte du sie auch mit Hilfe meiner Kunst fest. Eine Erwerbung zu behalten ist nicht weniger schwierig als sie zu bekommen. - Ars II 12 f.).
Und II 17-20: Magna paro, quas possit Amor remanere per artes, dicere, tam vasto pervagus orbe puer. Et levis est et habet geminas, quibus avolet, alas: difficile est illis inposuisse modum. (Etwas Wichtiges sage ich jetzt: durch welche Künste man Amor festhalten kann, den Knaben, der haltlos auf der Erde umherzieht. Schlüpfrig ist er und besitzt zwei Flügel, mit denen er fortfliegt: schwierig ist es, ihnen Grenzen zu setzen.).
Man spürt förmlich noch, wie es Ovid - ähnlich wie in den Metamorphosen - gereizt hat, die Analogie zwischen der äußeren Gestalt (Flügel) und dem inneren Wesen Amors (Flüchtigkeit) pointiert auszukosten. Hätte Amor noch keine Flügel gehabt, Ovid hätte sie ihm angedichtet!
Der Flug des Daedalus dient hier zur Veranschaulichung der Flüchtigkeit der Liebe; seine geflü-gelte Flucht ist der assoziative Anknüpfungspunkt. Denn der Freiheitsdrang Amors (der Liebe) lässt sich ebensowenig begrenzen wie es mit dem Freiheitsdrang des Daedalus möglich war (Vgl. Ars II 25: modus exilio und II 20: inposuisse modum).
Als warnendes Beispiel zeigt die Erzählung auf, wie schnell und unerwartet etwas, dessen man sich sicher glaubte, einem entschwinden kann. Sie ist also aus der Sicht des Minos gedacht, der Daedalus auf Kreta festhalten wollte, und wird dementsprechend eingeleitet: Hospitis effugio praestruxerat omnia Minos (Alles hatte Minos getan, um das Entkommen seines Gastes zu verhindern - II 21). Dem tenere und remanere per artes (II 17) steht das effugere per artes entgegen.19
Durch den assoziativen Übergang von den Flügeln Amors zur Flucht des Daedalus führt Ovid den Leser, der schnell dem Eigenleben der Episode erliegt, unmerklich mitten in die Erzählung hinein. 20 Erst in Vers 97 wacht man gleichsam wieder auf und erinnert sich des eigentlichen Themas: non potuit Minos hominis conpescere pinnas, ipse deum volucrem detinuisse paro! (Nicht konnte Minos menschliche Flügel bändigen, ich aber will einen geflügelten Gott in Fes-seln halten.).
Angedeutet finden wir bereits alle Motive der Metamorphosenfassung (ars, fuga bzw. libertas, alae, pervagus puer, inponere modum). Allerdings stehen das Thema: Flüchtigkeit der Liebe und die Parallele puer Amor und puer Ikarus 21 so im Vordergrund, dass verschiedene Motivstränge, wie etwa die Ambivalenz der Technik und das Hybris-Motiv, ebenso der Vater-Sohn-Konflikt noch nicht eigentlich entfaltet werden.
So ist die Antinomie puer - pater in der Ars zwar deutlich angesprochen, schon zu Beginn in der Bitte des Daedalus an Minos: Si non vis puero parcere, parce seni. (Willst du nicht Rücksicht nehmen auf den Jungen, so nimm [wenigstens] Rücksicht auf mich Alten - II 30). Auf ihr liegt jedoch noch kein psychologisches Gewicht. 22
Auch das Thema Hybris ist in der Fassung der Ars gleichsam noch abgeblockt durch die wieder-holte Betonung der Zwangssituation 23 , durch die starre Härte des Minos, die Mitleid erweckt für die verzweifelte Ausweglosigkeit des Daedalus, vor allem aber durch das Gebet zu Iupiter, eine präventive Abbitte (38-42).
Schließlich nimmt auch die Aufforderung des Daedalus an Ikarus: quem licet, inventis aera rumpe meis. (Du darfst es; durchbrich den Himmel mit Hilfe meiner Erfindung - II 54) auch dem Leser den Verdacht auf Hybris und formuliert sozusagen den Freispruch vor.
Aufgrund der Parallelität: Minos-Daedalus / Liebender-Geliebte steht die Figur des Daedalus im Zentrum der Perspektive. Darin liegt der eigentliche Unterschied zu den Metamorphosen, wo sich der Blickpunkt auf Ikarus verlagert.
Wie aber hat Ovid, von seiner ersten Fassung des Mythos ausgehend, die Neufassung in den Metamorphosen konzipiert? Was war die ihn leitende thematische Idee? Um dies zu beantworten muss man zunächst auf die hauptsächlichen Veränderungen schauen. Diese betreffen
1. die Instruktion des Ikarus und
2. den Ort und die Gestaltung der krisis, d.h. den Moment des Abfluges und die erste Flugphase.
Betrachten wir zunächst die Instruktion an Ikarus vor dem Flug. In der Ars ist sie in auffälliger Weise viel kooperativer und weniger bestimmend gehalten als in den Metamorphosen. Es herrscht hier kein Ton von Vorschrift und Befehl, eher eine Stimmung der Fürsorge und Rück-sichtnahme.
Allein schon das abschließende: Me duce tutus eris (II 58) klingt ganz anders als Me duce carpe viam! (Met. VIII 208). Insgesamt sind die Ermahnungen des Daedalus sehr abgeschwächt und gemildert; sie sind
- entweder im Gerundiv (als Ausdruck des Zwangscharakters)
- oder (als gemilderter Befehl) im Futur (Sed tibi non .. ensiger Orion aspiciendus erit - Aber den Orion mit seinem Schwert, den wirst du nicht anschauen dürfen - II 55 ff.)
- oder im Imperativ II gehalten (Ventos quoque, nate, timeto - Auch auf die Winde, mein Sohn, solltest du achten - II 63).
Außerdem spricht Daedalus im Plural und nimmt so sich selbst in die Ermahnungen mit hinein: sive aetherias vicino sole per auras ibimus, ... sive humiles propriore freto iactabimus alas (Wenn wir nahe der Sonne durch den Aether fliegen, .. oder wenn wir niedrig über der Meeresfläche fliegen - II 59-61). Er stellt sich also nicht über Ikarus.
Auffallend auch, dass Daedalus trotz der Eile sich selbst und seinem Sohn viel mehr Zeit lässt. So fehlt in den Metamorphosen das aptat opus puero monstratque moveri, erudit (Er passt seinem Sohn die Flügel an und zeigt ihm, wie man sich darin bewegt und lehrt ihn - II 65), ebenso fehlt: cursus sustinet usque suos (von selbst verzögert Daedalus seinen Flug - II 74).
Insgesamt ist auffällig, dass die Fassung der Ars allein schon dadurch kommunikativer ist, dass sie eine Vielzahl von Redeparts enthält, die in den Metamorphosen fast gänzlich entfallen. Bis auf das Selbstgespräch des Daedalus zu Anfang und seine verzweifelten Rufe am Schluss, die beide Ikarus nicht erreichen, sind einzig die langen Ermahnungen geblieben. Eine Sprach-losigkeit, die die gestörte Kommunikation zwischen Vater und Sohn erahnen lässt.
Die wichtigste Veränderung liegt jedoch in der Umkehrung der Reihenfolge beim Anlegen der Flügel. In der Ars legt Daedalus zuerst seinem Sohn die Flügel an und unterweist ihn eingehend, bevor er selbst sich in die Luft schwingt (II 65-68). Er hat also die Hände frei für Ikarus und kann ihm helfen. In den Metamorphosen dagegen probiert er zunächst alleine die Flügel aus und legt sie dann seinem Sohn an, dem somit keine Gelegenheit zum Ausprobieren gegeben wird (VIII 200- 209).
Welche Funktion haben alle diese Veränderungen? Sie dürften dazu dienen, den Konflikt zwi-schen Vater und Sohn zu verschärfen, indem sie Daedalus eine sehr viel stärkere Dominanz zu-weisen.
Auch bei der Neugestaltung der Krisis in den Metamorphosen finden sich markante Verände-rungen:
- Wie wir oben sahen, sind alle Aktionen erzähltechnisch viel mehr gerafft, die Dominanz des Daedalus und seine Eile verschärfen die innere Spannung der Erzählung und lenken viel deut-licher auf den entscheidenden Moment hin.
- Zielpunkt der Erzählung war in der Ars der Augenblick des Absturzes, den Ovid dort noch viel dramatischer auskostet. Die erzählerische Hauptspannung lag auf dem Schreckensmoment bei Ikarus.
- In den Metamorphosen dagegen liegt der Brennpunkt auf dem Moment, in dem Ikarus sich gegen das Gebot des Vaters entscheidet und zu hoch steigt: cum puer audaci ... (VIII 223-225).
Ovid erreicht diese Verlagerung der Erzählspannung durch mehrere Kunstgriffe:
- Der Schreckensmoment bei Ikarus ist viel kürzer und weniger dramatisch gehalten; unter anderem entfällt der Hilfeschrei zum Vater.
- Dagegen ist der Bildschnitt aus der Perspektive der Bodenbetrachter länger und ausmalender gestaltet. Durch den innehaltenden Blick wirkt die Erzählung gerade an dieser Stelle ruhiger und entspannter als in der Ars und bildet einen schärferen Kontrast zum plötzlichen Himmels-drang und zur Hektik und Panik des Absturzes.
- Ganz entscheidend ist die Veränderung in der Charakterisierung des Daedalus: die patriae genae der Ars (II 70) werden zu genae seniles. Signifikant werden dieses Attribut und der damit verbundene psychologische Bruch allerdings nur dadurch, dass Ovid die demütige Bitte an Minos zu Anfang der Erzählung wegfallen lässt. Dort hatte sich nämlich Daedalus selbst - in offensichtlicher Übertreibung und um Mitleid zu wecken - als Greis bezeichnet.
- Noch entscheidender ist die Umstellung und der Ausbau des Vogelgleichnisses, das in der Ars nur in einem Vers angedeutet und nicht weiter ausgeführt war (II 66): erudit infirmas ut sua mater aves (wie die eigene Mutter ihre noch zaghaften Jungvögel lehrt). Es stand dort an un-dramatischer Stelle, noch weit vor dem Abflug, und diente lediglich der Veranschaulichung der pädagogischen Situation. In den Metamorphosen dagegen verschiebt Ovid es genau auf den Moment des Abfluges, wodurch es eine neue und entscheidende Funktion erhält: es veran-schaulicht nicht nur, es symbolisiert den eigentlichen Umbruch, die psychische Loslösung, das „Flüggewerden“ des Ikarus.
Fragen wir noch einmal nach der leitenden Idee der Neufassung, so dürfte deutlich geworden sein, dass das Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes zumindest eine der entscheidenden, wenn nicht sogar die entscheidende Idee war und das neue Thema und Ziel der Erzählung bildet. Angelegt war es, wie auch das Hybris-Motiv und das Motiv der Ambivalenz der Technik, bereits in der Ars, wird jedoch erst jetzt als eigenes Thema ausgestaltet. Ovid scheute sich wohl, denselben Mythos zweimal identisch zu erzählen, ihn also bloß zu kopieren. Sicherlich drängte auch der unterschiedliche Grundgedanke von Ars amatoria und Metamorphosen zu einer Umgestaltung. Überaus reizvoll ist es zu beobachten, wie virtuos und flexibel er dabei den Mythos verändert und neu dichtet, jede feine, noch ungesagte Nuance witternd.
... cum puer, incautis nimium temerarius annis, / altius egit iter, deseruitque patrem. / Vincla labant (als der Junge, zu leichtfertig in seiner kindlichen Unbekümmertheit, plötzlich höher stieg und seinen Vater verließ. Es lockern sich die Bindungen - II 83 f.).
Ovid selbst hat sich hier die Frage nach dem Alter des Ikarus gestellt. Was aber sind die incauti anni? Und welche vincla, Fesseln und Bindungen, fallen hier ab? Ovid musste nur das äußere Geschehen zu einem inneren- umgestalten und hatte ein neues Motiv: deseruit patrem! 24
8. WENN KINDER FLÜGGE WERDEN - FUNKTION UND BEDEUTUNG DES VOGELGLEICHNISSES
ante volat comitique timet, velut ales, ab alto / quae teneram prolem produxit in aera nido, / hortaturque sequi (Voran fliegt er und bangt um seinen Begleiter wie ein Vogel, der hoch vom Nest herab seine noch zaghafte Brut in die Luft lockt, und mahnt ihn, zu folgen - VIII 213 ff.).
Das Vogelgleichnis erfüllt auf den ersten Blick eine eindeutige Funktion: es „läßt gefühlsmäßig die Situation des Vaters noch stärker spüren“ (Maier, Auxilia, S. 18), es verstärkt „das affektische Element der Angst und Sorge“ (M.v.Albrecht, Römische Poesie, S. 78).
Beide Deutungen sind richtig, und doch erfassen sie nur einen Aspekt des Gleichnisses, ohne seine besondere Stellung und Funktion zu beachten. Eine tiefergehende als diese bloß affektiv ausmalende Funktion wird dem Gleichnis von keinem der Interpreten zugesprochen. Dass Ovid es an den Flugbeginn setzt, der nach all den schrecklichen Vorverweisen von äußerster Spannung erfüllt ist, zeigt jedoch - so sei noch einmal betont - seine bedeutsame Funktion für die Erzäh-lung. Denn mit diesem Vergleich wird ja nicht nur - direkt - die Angst des Vaters ausgemalt und bildhaft veranschaulicht, sondern auch - indirekt - die Ängste und vor allem die Unsicherheit des Ikarus. Seine existentielle Situation ist in dem Bild ebenso angesprochen wie die des Daedalus!
Das eigentliche Thema des Vogelgleichnisses sind demnach nicht die daran sich anknüpfenden Gefühle, sondern es ist das Umschlagen der Beziehung zwischen Eltern und Sprößlingen (Vgl. Ars II 66: ut sua mater aves). Die kompositorische Idee kann also nur folgende sein: während Daedalus in äußerlichem Sinne die Freiheit gewinnt, gewinnt Ikarus - unbemerkt - die innere Freiheit in seiner Beziehung zum Vater, indem er seine Abhängigkeit aufgibt.
Er verliert damit - immer ein dramatischer Vorgang - die sichere Geborgenheit und Gefahr-losigkeit des Nestes. Hierin liegt die eigentliche Angst des Vaters begründet.Denn deuten wir das Gleichnis weiter aus, so empfinden die wissenden Altvögel die Gespanntheit der Situation als Angst vor dem Fall und dem Sturz, die unwissenden Jungvögel dagegen als Furcht vor dem Absprung.
Es ist die Tragik eines jeden Flüggewerdens, dass die Eltern ihre - ja schon flugfähigen - Kinder immer noch als „Nesthocker“ sehen. Und es gehört zur Ablösung der Jungen, das sie sich gegen eine solche Sichtweise der Alten, so berechtigt sie auch immer sein mag, empören.
9. DAEDALUS - EINE DRAMATISCHE TRILOGIE
Oben hatten wir nach der leitenden Idee für die Neufassung des Stoffes in den Metamorphosen gefragt. Dass die Gestaltung des Vater-Sohn-Konfliktes tatsächlich eines der Hauptmotive beim Einbau der Erzählung in das perpetuum carmen gewesen ist, wird bestätigt durch einen Blick auf die Komposition des 8. Buches der Metamorphosen, wo Ovid einen eigenen Zyklus zum Thema des Generationenkonfliktes zusammenstellt. 25
zunächst sei der Inhalt des 8. Buches (Verse 1-259) vorangestellt:
- Minos führt mit einer Flotte Krieg gegen Nisus, den König von Megara (VIII 1-10).
- Scylla, die Tochter des Nisus, verliebt sich in Minos (VIII 11-50),
- sie verrät ihren Vater und offenbart Minos ihre Liebe (VIII 51-95).
- Minos verschmäht sie und reist nach dem Sieg ohne sie ab. Scylla stürzt sich ins Meer, klammert sich an sein Schiff und wird in einen Seevogel verwandelt (VIII 95-151).
- Minos bringt Juppiter ein Hekatombenopfer dar (VIII 152-154).
- Minos will den Minotaurus verbergen und lässt Daedalus ein Labyrinth erbauen (VIII 155-168).
- Der Athener Theseus tötet den Minotaurus und entführt Ariadne, die Tochter des Minos, setzt sie aber unterwegs auf Naxos aus. Bacchus jedoch verwandelt ihre Krone in ein Sternbild (VIII 169-182).
- Inzwischen will Daedalus sein Exil auf Kreta wieder verlassen, erfindet Flügel und flieht mit seinem Sohn Ikarus, der unterwegs stirbt (VIII 183-235).
- Perdix, der Neffe des Daedalus, den dieser aus Neid von der Akropolis gestürzt hatte, und der von Athene gerettet und in ein Rebhuhn verwandelt worden war, sieht bei der Bestattung des Ikarus voll Schadenfreude zu (VIII 236-259).
Eine Fülle von Beziehungen und Analogien springt förmlich ins Auge. Offensichtlich baut Ovid zu Beginn des 8. Buches eine tragische Trilogie auf:
1. Minos und Scylla (VIII 5-151). Dabei dient das Labyrinth des Daedalus als Übergang zu
2. Theseus und Ariadne (VIII 152-182),
3. Daedalus und Ikarus (VIII 183-235), wobei die Erzählung um Perdix als nachträgliche Recht-fertigung für den Tod des Ikarus fungiert (236-259).
Die meisterhafte Verdichtungskunst - fast müsste man sagen: Webkunst - Ovids geht jedoch noch weiter. Die eben genannte tragische Trilogie verknüpft er zusätzlich mit einer Daedalus-Trilogie:
1. Die Erbauung des Labyrinthes (VIII 155-168), als Einschub die Erzählung um Theseus und Ariadne,
2. Die Flucht aus Kreta (VIII 183-235),
3. Der Mord an Perdix als Grund für das Exil (VIII 236-259).
Da Daedalus innerhalb dieser Trilogie die Zentralfigur ist, dient der Sturz des Ikarus in der mittleren Erzählung (Flucht aus Kreta) der indirekten, tragisch-ironischen Bestrafung des Daeda-lus für sein Verbrechen an Perdix.2 Fragt man von daher noch einmal nach der Schuld des Ikarus, so kann man sagen: da er zum Zeitpunkt des Fluges nicht mehr als Kind anzusehen ist, ist er auch für seine Tat verantwortlich. Gleichwohl ist er nicht schuldig. Allein die Figur des Daedalus ist auf der Ebene der Schuldproblematik entwickelt, da nur er als opifex von Anfang an die Tragweite des Vorhabens überblickt. Ikarus bleibt bis zum Flug puer ignarus. 27
Zwei Grundmotive finden sich - auch sprachlich-begrifflich - in dem ganzen Komplex dieser Verse VIII 5-266:
1. Das Motiv des Fliegens bzw. des Verwandeltwerdens in einen Vogel, wie es äußerlich-technisch Daedalus und Ikarus nachahmen 28, ohne den künstlichen Charakter ihres Erzeug-nisses zu beachten, und
2. Das Motiv der Auseinandersetzung zwischen Eltern und ihren Kindern, wie es bei Daedalus und Ikarus zutagetritt, abgeschwächt bei Ariadne, die ihren Vater verlässt 29, überaus deutlich bei Scylla, die - aus sklavischer Liebe zu Minos - ihren eigenen Vater verrät.
Beide Grundmotive, die ineinander verwoben sind, seien kurz für Scylla, Ariadne und Perdix mit Blick auf den Text erläutert. Die kompositorische Idee liegt dabei wohl in der Parallelität zwi-schen Scylla und Daedalus (in Hinsicht auf die Ausweglosigkeit ihres Schicksales und den Versuch, durch die Luft zu entkommen) und zwischen Scylla und Ikarus (hinsichtlich ihrer Hyb-ris und ihrer tragischen Opferrolle).
Scylla verrät in ihrer Liebe zu Minos den eigenen Vater Nisus. Schon früh erwächst bei ihr aufgrund der räumlichen Trennung von Minos der Wunsch, über alle Mauern hinweg zu ihm hinfliegen zu können (O ego ter felix, si pennis lapsa per auras / Gnosiaci possem castris insistere regis - VIII 51 f., in Analogie zu Daedalus!). 30 Im Verlaufe ihres inneren Konfliktes löst sie sich vom Vater (Aditus custodia servat, / claustraque portarum genitor tenet: hunc ego solum infelix timeo, solus mea vota moratur. / Di facerent, sine patre forem! - sibi quisque profecto / est deus. - VIII 69 ff.; Hybris-Motiv in Analogie zu Ikarus!).
Tragische Zuspitzung ihres Schicksales: (patria) proditione mea clausa est mihi (VIII 115, vgl. 185!), obstruximus orbem terrarum nobis, ut Crete sola pateret (VIII 117 f.; Umkehrverhältnis zum Schick-sal des Daedalus!). Es bleibt - deus ex machina - nur die Verwandlung: des Nisus in einen Seeadler: iam pendebat in aura (VIII 145, vgl. 202: Daedalus pependit in aura!) und der Scylla in eine ciris: Pluma fuit; plumis in avem mutata vocatur ciris (VIII 150 f.).
Ariadne, Tochter des Minos, vom Athener Theseus entführt (Schuld und Sühne-Motiv: schicksalhafte Vergeltung für das Verhalten des Minos gegenüber der infelix Scylla) wird, obwohl sie Theseus gegen ihren Vater bzw. ihren Stiefbruder Minotaurus geholfen hatte, von diesem auf Naxos zurückgelassen (Parallele zum Schicksal der Scylla).
In dieser äußersten Zuspitzung der Situation wird - symbolisch? - ihre Krone - wiederum „deus ex machina“ - von Bacchus in ein Sternbild verwandelt: tenues volat illa per auras (VIII 179).
Die Geschichte um Perdix wiederum ist der spiegelbildliche Hintergrund zur Ikarus-Geschichte. Daedalus sieht in Perdix, seinem Neffen und Schüler, einen Konkurrenten, den er nicht ertragen kann, und stößt ihn von der Akropolis hinab (praecipitem misit - VIII 251). Die tragische Ironie besteht darin, dass Perdix Flügel gebraucht hätte, sie jedoch von Athene noch im Fluge bekommt: Pallas / avemque reddidit et medio velavit in aere pennis (VIII 252 f.), Ikarus dagegen Flügel besitzt, sie jedoch nicht, wie Perdix, vorsichtig und angemessen zu nutzen weiß.
10. PÄDAGOGISCHE AUSBEUTE 31
Die Erzählung von Daedalus und Ikarus ist wohl einer der didaktisch wertvollsten und frucht-barsten Texte, die der Lateinunterricht zu bieten hat. Eine Fülle von Lernzielen lässt sich „in einem Stück“ und deshalb in faszinierender Dichte an diesem Stoff umsetzen.
Was „Dichtung“ ist mit all ihren formalen und inhaltlichen Möglichkeiten, kann gerade an dieser poetischen Erzählung erlebbar gemacht werden: reichhaltige, vielfarbige Bildhaftigkeit auf klein-stem Raum, Kunst in vollendeter Form.
Wir wollen nur einige didaktische Hinweise zusammenstellen, die sich aus den hier vorgestellten Beobachtungen und Deutungen ergeben.
Mögliche thematische Schwerpunkte der Lektüre könnten sein:
- die Charakterisierungs- und Psychologisierungskunst Ovids,
- die Kunst der Leserlenkung (als stiller Dialog des Dichters mit dem Leser),
- Spannungsaufbau und Spannungsführung als Kunst des Erzählens (Spannungskurve),
- der formale Umgang mit Raum, Zeit und Perspektivität (als filmische Darstellungskunst), 32
- Bildaftigkeit und Anschaulichkeit als Tugenden epischen Dichtens.
Für Schüler/innen der Jahrgangsstufen 9 bis 11, in denen die Erzählung meist gelesen wird, ist der Generationenkonflikt ein existentiell naheliegendes Thema. In der Tat machen nicht nur das Fliegen und dessen technische Aspekte diesen Mythos zu einer der fesselndsten Lateinstücke, sondern auch die innere, psychologische Dramatik der Erzählung.
Wie aber lässt sich didaktisch das Thema „Generationenkonflikt“ angehen? Verfolgt man beglei-tend zur Lektüre die Charakterisierung der Handlungsträger (entwickelndes, sich allmählich auf-bauendes Tafelbild), so werden die Schüler die Brüche bemerken und von allein auf das psycho-logische Rätsel stoßen.
Dieses Rätsel, das durch die Erklärungen Ovids (audaci coepit gaudere volatu, caelique cupidine tactus) nur unzureichend gelöst wird, sollte nach Vers 225 ganz deutlich gemacht werden, etwa anhand folgender Frage (als Leitfrage an die Tafel): Was ist eigentlich in Ikarus während des Fluges vor sich gegangen, dass er so plötzlich (cum inversum) die deutlichen Ermahnungen des Vaters missachtet, obwohl er doch genau weiß, welche Folgen das haben wird? 33
Als überaus fruchtbar und spannend hat es sich erwiesen, die Schüler selbst (als Hausaufgabe) eine Lösung finden zu lassen, indem sie entweder eine Erzählung aus der Sicht des Ikarus schreiben (in der Ich-Form!) oder ein Bild bzw. eine Kollage dazu anfertigen.
Bei den Lösungsversuchen der Schüler wird das Motiv des Vater-Sohn-Konfliktes sicherlich immer wieder auftauchen, was sich im Gespräch bewusstmachen und durch Rückblicke auf den Text (z. B. auf das Vogelgleichnis) vertiefen lässt. Einzelne sprachliche Hinweise erhalten im Nachhinein eine ganz andere, psychologische Lesart und Bedeutung, etwa: deseruit ducem oder: caeli cupidine tactus (VIII 224). Friedrich Maier deutet es sehr treffend als „Leidenschaft zum Himmel“ d. h. „zur Höchstleistung“, wie sie zu jugendlichem Drang nach Selbstbestätigung passt
(S. 199, Anmkg. 16).
Für die Schüler mag es besonders interessant sein, analoge heutige Ikarus-Figuren zu entdecken, wie sie sich auch in modernen Rezeptionen vielfältig finden. 34 Ein vergleichbares Motiv dürfte bei modernen Erscheinungen jugendlicher „Subkultur“ vorliegen, z. B. bei den „S-Bahn-Ridern“ in Amerika (und mittlerweile auch schon in Deutschland), bei den meist jugendlichen, aber auch erwachsenen Auto- und Motorradrasern etc. Die oben beschriebene magische Komponente haftet ja gerade dem „Auto-Mobile“ als Maschine an.
Vergleichbar zur Tat des Ikarus sind dabei unter anderem die Sucht nach dem Extremen und die Ausagierung auf verbotenem Felde. Immer drückt sich darin als Grundmotiv der Generationen-konflikt aus, dessen Zündstoff der jugendliche Drang nach Freiheit (im Sinne von Selbständig-keit) bildet. Gerade Ikarus ist darin wie kaum eine andere antike Figur dem heutigen Schüler wesensverwandt.
Als Zusammenfassung und Rückblick sei an den Schluss ein Tafelbild gestellt (man könnte den jeweiligen Erzählabschnitt bzw. den Erzählverlauf parallel dazu festhalten):
CHARAKTERISIERUNG
DAEDALUS: IKARUS:
- faber celeberrimus (ponit, alligat, flectit)
- hochmütig und selbstsicher bis überheblich
(naturam novat, ibimus illac),
- puer ignarus
- verspieltes, unmündiges Kind (ore renidenti
... captabat plumas / lusu suo impediebat opus)
- opifex (Macher, Schöpfer)
- autoritärer Vater, erteilt Instruktionen und
Vorschriften: me duce carpe viam!
Psychologischer Bruch!
- genae maduere seniles et patriae
tremuere manus
- timet comiti - comes
- natus
- ut tenera proles (Jungvogel), ab alto nido
Bildschnitt:
- hos aliquis vidit et obstipuit
- et iam dextra Lebinthos erat
Psychologischer Bruch!
- cum puer audaci coepit gaudere volatu
- caelique cupidine tactus
- altius egit iter
- pater infelix
- nec iam pater!
Frage: Was ist in Ikarus während des Fluges vor sich gegangen, dass er so plötzlich die Ermahnungen des Vaters missachtet, obwohl er genau weiß, welche Folgen das haben wird?
ÜBERSICHT ÜBER DIE VERWENDETE LITERATUR
• Albrecht (1977), Michael von: Römische Poesie, Texte und Interpretationen, 73-79. - Heidelberg 1977.
• Albrecht (1984), Michael von: Consilia - Lehrerkommentar, Heft 7: Interpretationen und Un-terrichtsvorschläge zu Ovids ‚Metamorphosen‘, Vandenhoeck & Ruprecht 1984, 79-85
• Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart. - dtv, München 1986 (3 Bände)
• Hebel, Brigitte: Vidit et obstipuit - ein Interpretationsversuch zu Daedalus und Ikarus in Text und Bild, in: AU 1/1972, 87-110.
• Maier (1967), Friedrich: Die Wahrheit im Mythos von Daedalus und Ikarus. Ein Deutungs-versuch von Ovid, Metamorphosen VIII 183-235, in: Anregungen 13 (1967), 391 ff.
• Maier (1981), Friedrich: Ovid - Daedalus und Ikarus, in:Auxilia Bd. 2, Bamberg 1981, 5-46
• Maier (1985), Friedrich: Ikarus - ein Symbol für Träume des Menschen, in: Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bd. 3, 194-216. - Bamberg 1985.
• Röttgen, Herwarth: Daedalus und Ikarus - zwischen Kunst und Technik, Mythos und Seele, in: Zeitschrift des Ulmener Vereins für Kunstwissenschaft 12 (1984), Heft 2, 5-35 und Heft 3, 5-26.
Die Übersetzungen aus den Metamorphosen (Met VIII 183-235) und der Ars amatoria (Ars II 21-98) des Ovid stammen vom Verfasser.
Fußnoten
1 Gemeint ist die von Ovid hinter den Absturz des Ikarus gestellte Episode um Perdix, den Neffen und Schüler des Daedalus, den dieser aus Neid von der Akropolis gestürzt hatte, der Grund seiner Flucht nach Kreta zu König Minos. Ovid selbst bezeichnet dieses Verbrechen als longum crimen, eine weitreichende Schuld (Met VIII 240), die erst durch den Tod des Ikarus stellvertretend gesühnt wird.
2 Mit der Frage nach der Tragik in dieser Erzählung hat sich vor allem M.v.Albrecht wiederholt beschäftigt. Vgl. etwa: Römische Poesie, 76 f. und Consilia, 82-84: „Daedalus erkennt zwar die Gefahren, aber in seiner Verblendung verkennt er die Tatsache, dass Ikarus zu jung ist, um ihnen zu widerstehen. Dies ist ein tragischer Irrtum.“ - Vgl. auch Maier (1985), 195-199.
3 Allein rückwirkend, von der Rezeptionsgeschichte her gesehen, stellt er fest: „Nichtsdestoweniger ist aber die Geschichte so gestaltet, dass der Leser ein Problem spürte, so dass er daran später gleiche oder ähnliche Problemkonstellationen anbinden konnte.“
4 Die sog. „Neoteriker“ (gr.:neoteroi, die Neueren, die „Modernen“) waren eine Gruppe römischer Dichter des
1. Jh. v. Chr., die das dichterische Ideal und die ausgefeilte Dichttechnik der alexandrinisch-hellenistischen Dichtung übernahmen. Als Ideal galten Witz und Eleganz, Pointiertheit und exakte Ausgefeiltheit, die in der dichterischen Kleinkunst (Epyllien, Elegien, Epigramme) gepflegt wurden.
5 Der Generationenwechel mit seinen Spannungen bildet auch das eigentliche Thema der Perdixgeschichte. Daedalus hatte offenbar die Priorität des jungen Perdix nicht ertragen (Met. VIII 247 ff.: primus, ... Daedalus invidit). - Die Perdix-Episode liegt zwar zeitlich voraus, Ovid hat aus ihr jedoch eine „Hintergrund“-Erzählung zur Flucht aus Kreta gemacht.
6 M.v.Albrecht, Consilia, 84, Anmkg. 64.
7 Maier (Auxilia, S. 17) bemerkt dazu: „bezeichnenderweise nennt Ovid den Weltschöpfer Gott ebenso opifex,
I 79, wie den Erfinder Daedalus, VIII 201.“
8 Sehr informativ und reichhaltig ist sein zweiteiliger Aufsatz: „Daedalus und Ikarus - zwischen Kunst und Tech-nik, Mythos und Seele“. Er belegt eine Fülle von Rezeptionsspielarten und zeigt die epochengeschichtliche Wirkung des Mythos (Vgl. Heft 2, S. 7 f.). Im zwanzigsten Jahrhundert, so schreibt er (Heft 3, S. 15), „hat sich dem Thema von Daedalus und Ikarus ... ein neuer Bezugsrahmen eröffnet, der wesentlich mit Überwindung und mit dem Vermögen oder Unvermögen zur Befreiung zu tun hat. Es handelt sich um die Psychologie der Generationen und das Vater-Sohn-Verhältnis.“
9 Beispiele moderner Rezeptionen des Vater-Sohn-Konfliktes finden sich bei Röttgen, Heft 3, S. 15-24.
10 Dass Ovid diese Analogie zwischen Daedalus und Ikarus gesehen hat, zeugt von seinem enormen psycholo-gischen Gespür. Dabei scheinen beide Akteure wechselseitig nichts zu ahnen von ihrem unterschiedlichem Drang nach Freiheit: Ikarus versteht nicht, worum es Daedalus mit dem Bau der Flügel geht, und Daedalus scheint blind zu sein für den Freiheitsdrang seines Sohnes.
11 Seine Seelenverfassung wird zu Anfang deutlich im Hass auf Minos bzw. das unfreiwillige Exil und in der Sehnsucht nach seiner Heimat (VIII 183 f.), vor dem Abflug in seiner Angst und Unsicherheit anhand der äußeren Symptome des Zitterns und der Tränen (VIII 210 ff.).
12 Einzig die spielerische Freude wird zu Anfang durch das ore renidenti und während des Fluges durch audaci coepit gaudere volatu als Wesenszug des Ikarus erkennbar. Gerade durch das Fehlen dieser inneren Ausmalung des Geschehens jedoch zieht Ovid die Aufmerksamkeit und das Interesse des Lesers auf die Person des Ikarus, die ganz unerwartet zur Hauptfigur wird.
13 Es bleiben sicherlich viele konkrete Fragen der Fluchtgeschichte offen: Von wo fliegen die beiden ab? Bemerkt niemand auf Kreta ihren Plan? Gelingt die Flucht „in letzter Minute“ oder geht sie ruhig vonstatten? etc.
14 Consilia, 82 f.
15 Vgl. M.v.Albrecht, Römische Poesie, 74: „Schließlich ist durchgehend auf die Psychologie des Lesers Rück-sicht genommen; auf sie ist der Aufbau der Erzählung bezogen“. - Zur Leserlenkung vgl. auch die wichtigen Ausführungen Friedrich Maiers in den Auxilia, 23 ff.
16 Vgl. etwa Brigitte Hebel, Vidit et obstipuit, Friedrich Maier, Auxilia, 25 ff., M.v.Albrecht, Consilia, 83.
17 Man sollte hier unbedingt innehalten und sich mit den Schülern kurz den Streckenverlauf ansehen. Anhand eines Maßstabes werden die Schüler sofort die abgeflogenen Kilometer nachmessen und so die von Ovid gemeinte Entfernungsangabe - ca. 250 km! - begreifen.
18 „Am augenfälligsten aber sind die Abstufungen bei der Schilderung des Sturzes, der dadurch wie in Zeitlupe wiedergegeben erscheint.“ (Römische Poesie, 74). Zwar sei „die etwas grausame ‚Zeitlupenaufnahme`“ in den Metamorphosen „ersatzlos gestrichen“ (ebda. S. 77); unserer Meinung nach ist sie aber auch dort noch deutlich erkennbar.
19 Bezeichnend ist für Minos, dass er wie schon bei seiner Frau Pasiphae so auch bei Daedalus die ars tenendi nicht beherrscht.
20 Diese Technik ist wohl ein erster Ansatz zur Idee der Metamorphosen als perpetuum carmen.
21 So kennzeichnet Ovid Amor schon zu Beginn der Ars amatoria folgendermaßen: Ille quidem ferus est et qui mihi saepe repugnet: / sed puer est, aetas mollis et apta regi. (Jener ist zwar wild und wird mir oft widerstreben, aber er ist ein Knabe, noch weich und gut zu lenken. - 9 f.). - Auch hier ist das Problem der Macht zwischen Kind (Amor) und Erwachsenem (Ovid) spielerisch aufgegriffen. So sagt Ovid von sich: ego sum praeceptor Amoris (~ Ich bin es, der Amor Vorschriften macht).
22 Vgl. dazu auch die Verse II 49-51.63.65.69 f .73.83 f und 91.
23 Ausgedrückt in den vielen Gerundiva (Vgl. II 42: Sunt mihi naturae iura novanda meae, und II 51 f.: patria est adeunda carinis, hac nobis Minos effugiendus ope.).
24 Vielleicht ist es eine zu weitgehende Deutung, aber: hörte ein Römer in dem tabuerant cerae auch den Verlust der (wächsernen) Ahnenbildnisse, Symbol für die Autorität der Vorfahren heraus? - Aus: cera liquescit (das Wachs wird flüssig - Ars II 85) wird in den Metamorphosen: tabuerant cerae (aufgelöst waren die Bindungen aus Wachs - VIII 227).
25 M.v.Albrecht ist der einzige, der bei seinen Erläuterungen auf den weiteren Kontext eingeht (Consilia, 79-81), ohne jedoch seine Beobachtungen für die Interpretation zu nutzen.
26 Vgl. dazu die treffenden Angaben bei M.v.Albrecht, Consilia, 84 f.
27 Das mirabile patris opus (Met VIII 199 f.) muss aus der Sicht des Ikarus als verwunderliches/sonderbares Werk übersetzt werden, und nicht als Wunderwerk (bewundernswertes oder wunderbares Werk).
28 Met. VIII 195 heißt es: ut veras imitetur aves, um wirkliche Vögel nachzuahmen.
29 Dass Theseus Ariadne entführt und ihrem Vater Minos wegnimmt, ist - ähnlich wie bei Daedalus - eine späte, schicksalhafte Vergeltung für das lieblose Verhalten des Minos gegenüber Scylla.
30 Das Thema „Glück und Unglück der Liebe“ ist von Ovid sprachlich in wiederholten Anklängen betont: ego ter felix, si .. (51), hunc [den Vater Nisus] ego solum infelix timeo (70 f.) und bei Daedalus: pater infelix (VIII 231).
31 Zur „schulischen Interpretation“ vgl. insgesamt: Maier, Auxilia, 32-44.
32 Man sollte hier immer wieder nach der filmischen Perspektive und der „Kameraeinstellung“ fragen; es ließe sich sogar ein ganzes Drehbuch nachschreiben.
33 Maier stellt in den Auxilia (S. 12) eine ähnliche Leitfrage, nämlich: „Was war das für eine Sehnsucht des Ikarus? Wer ist Ikarus?“ und verweist auf die Inschrift im Deutschen Museum in München, die die Frage stellt: „Der Flug des Menschen hat die Natur übertroffen, ist aber die Sehnsucht des Ikarus erfüllt?“ (ebda.). Unter dem Motiv des Freiwerdens von elterlicher Autorität und der Selbstfindung ist die Sehnsucht des Ikarus letzten Endes Selbstsucht. - Eine andere Zugangsfrage könnte lauten: Was hätte Daedalus tun können? Wie hätte er sich (anders, besser) verhalten sollen? Hätte er das Unglück überhaupt verhindern können?
34 Besonders das „Drachen“-Fliegen - übrigens eine mythologische Bezeichnung - lässt in Zeitungsartikeln immer wieder die „Chiffre“ Ikarus auftauchen.
© Rudolf Henneböhl